Fabriken an Neckar, Steinlach und Ammer
Aus der Geschichte des Landkreises
Für immer mehr Menschen wurde seit dem 19. Jahrhundert die Fabrik zum Arbeitsort.
Der Landkreis Tübingen ist arm an Bodenschätzen. Eine gewisse wirtschaftliche Bedeutung erlangten lediglich verschiedene Steinvorkommen und die im oberen Neckartal aus der Erde sprudelnde Kohlensäure. Demgegenüber fehlen Rohstoffe wie Kohle oder Eisenerz und damit die Grundlagen zum Aufbau einer Schwerindustrie.
Nur in seltenen Fällen siedelten Unternehmer Fabriken also wegen der Bodenschätze in unserem Raum an, weshalb der Schwerpunkt auf verarbeitenden und veredelnden Industrien liegt. Für eine Ansiedlung im Landkreis Tübingen sprach im 19. Jahrhundert vor allem das hiesige Reservoir an Arbeitskräften. In dem Realteilungsgebiet mit seiner stetig steigenden Bevölkerungszahl fristeten viele Menschen ein eher bescheidenes Dasein von den Erträgen ihrer kleinen Bauerngüter. Sie besserten ihr Einkommen traditionell als Handwerker oder Kleinhändler auf, wofür sie zusätzlich eine gewisse Qualifikation benötigten. Allerdings teilten sich vor der Industrialisierung so viele Menschen die vorhandene handwerkliche und gewerbliche Arbeit, dass auch die Einkünfte daraus meist kaum ausreichten. Dementsprechend suchten viele handwerklich qualifizierte Männer nach Arbeit und das Lohnniveau blieb niedrig.
Zur Erschließung dieses Arbeitskräftepotentials trug der Bau der Eisenbahnlinien durchs Neckartal (1861) und durchs Steinlachtal (1869) entscheidend bei. Bevölkerungsreiche Gemeinden mit Bahnhöfen entwickelten sich zu frühen industriellen Zentren. Dorthin ließen sich die Unternehmer Kohle für ihre Dampfmaschinen und Rohstoffe bringen, ihre fertigen Produkte lieferten sie wiederum mit Hilfe der Eisenbahn aus.
Zu ausgesprochen beliebten Industriegemeinden entwickelten sich an der Neckartalbahn Kirchentellinsfurt, Lustnau, Derendingen und – wegen des im 19. Jahrhundert florierenden Hopfenanbaus etwas gehemmt – Rottenburg. Nahe der Steinlachtalbahn profitierten vor allem Dußlingen, Gomaringen, Ofterdingen, Mössingen und Bodelshausen vom industriellen Aufschwung. In diese frühen industriellen Zentren pendelten auch Arbeiterinnen und Arbeiter aus umliegenden Dörfern.
Hingegen blieb die Zahl der Fabriken in der Stadt Tübingen vergleichsweise bescheiden. Die Stadt profitierte stattdessen in hohem Maß von ihrer Rolle als Universitätsstandort, als Sitz des Landratsamtes, nach dem Zweiten Weltkrieg der Landesregierung von Württemberg-Hohenzollern, später des Regierungspräsidiums sowie weiterer Behörden. In der landesherrlichen Universitätsstadt, in der nicht die Zünfte, sondern Beamte und Akademiker das entscheidende Wort sprachen, herrschte sogar eine gewisse Distanz zu Industrie und Gewerbe. Während ein zeitgenössischer Beobachter Reutlingen 1819 mit einer „einzigen Fabrik“ verglich, bemerkte ein anderer drei Jahre später, dass es trotz günstiger Voraussetzungen in Tübingen „an Sinn für Industrie“ fehle. Deshalb gewann hier der Dienstleistungsbereich eine Sonderstellung und die früheste Industrialisierung spielte sich zu einem Gutteil vor den Toren der Stadt ab.
Das Arbeitskräftepotential im ländlichen Raum, dessen Qualifikation sowie Lohnniveau und der Eisenbahnanschluss zogen Unternehmer aus auswärtigen älteren Industrieorten an. Manche bevölkerungsreiche Gemeinde begünstigte diese Standortentscheidung noch durch eine aktive Ansiedlungspolitik, etwa indem sie billiges Bauland und Wasserrechte, mitunter sogar Bauholz aus dem Gemeindewald hergab, oder auf Steuern verzichtete. Insbesondere viele auswärtige Textilfabrikanten verlagerten ihre Betriebe ins Kreisgebiet oder gründeten hier eigene Produktionsstätten. Zu ihnen gehören der Miederwarenfabrikant Kindler in Gomaringen, die Textilunternehmer Maute in Bodelshausen, Gröber in Derendingen, Merz sowie Ammann und Söhne in Mössingen, Schöller in Öschingen. Die Mössinger Firma Pausa erhielt ihren Namen gar nach dem Herkunftsort der Besitzer im Vogtland. Daneben entwickelten einige einheimische Handwerker, ganz dem Typus des schwäbischen Tüftler-Unternehmers entsprechend, einen Produktionszweig oder eine Geschäftsidee so weit, dass ihr Gewerbe schließlich die Schwelle zum Industriebetrieb überschritt und sie ihre Produkte in Serie fertigten. So die Sägemaschinenbauer Wurster und Dietz in Derendingen, die aus dem Mühlenbau hervorgegangene Firma IRUS in Dußlingen, die gesamte Ofterdinger Holzindustrie, die Kirchentellinsfurter metallverarbeitenden Fabriken oder der in Pfäffingen vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg aufstrebende Motorradbauer Maico.
Einige dieser Tüftler-Unternehmen verdankten ihren Erfolg Impulsen aus dem Umfeld der Universität Tübingen, etwa die Himmelwerke, die einst Gasleuchten für Operationssäle seriell produzierten, oder die Firma Erbe, deren Fieberthermometer zum Verkaufsschlager wurde. Aus solchen heimischen Wurzeln entstanden die meisten Fabriken, die nicht dem Textilsektor angehören. Die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts herausgebildete Wirtschaftsstruktur blieb in ihren Grundzügen bis heute erhalten, wobei sich allerdings die Gewichte deutlich verlagerten, die Zahl der Standorte zugenommen hat und einige besondere Entwicklungen zu beobachten sind.