Aus der Geschichte des Landkreises

Mit dem Zug ins Gschäft

Die Eisenbahnstrecken brachten industrielle Erwerbsmöglichkeiten und Standortchancen mit sich.

Selbstverständlich steigen viele Tübinger heutzutage morgens am Bahnhof in den Zug und pendeln zur Arbeit, beispielsweise in die Landeshauptstadt Stuttgart. Weil in der Regel das private Auto als Alternative zur Verfügung steht, erscheint die Bahnfahrt keineswegs als große Errungenschaft.

Demgegenüber brachte die Eröffnung der sechs Bahnlinien im Gebiet des heutigen Landkreises Tübingen zwischen 1861 und 1911 für viele Menschen seinerzeit echten Fortschritt: Ermöglichte ihnen das neue Verkehrsmittel doch den Austritt aus der damaligen strukturellen Agrarkrise, weil sie nun auch weiter entfernt gelegene Arbeitsplätze, etwa in der früh industrialisierten Stadt Reutlingen, erreichen konnten. Gleichzeitig begünstigte das neue Transportmittel auch die Ansiedlung von Fabriken vor Ort. So bezogen die Fabrikanten auf der Schiene die Kohle für den Betrieb ihrer Dampfmaschinen. In umgekehrter Richtung versandten sie die Produkte ihrer Fabriken per Bahn. 

Bahnhofsgebäude an Bahngleisen, dreistöckig mit Satteldach, das Dachgeschoss mit Holz verkleidet, am Bahnsteig entlang der Längsseite des Gebäudes eine Überdachung, darüber ein Bahnhofsschild "Bieringen"
Bahnhof in Bieringen

Im Umkreis der Bahnhöfe entwickelten sich einige Dörfer zu ausgesprochenen Pendler-Wohnorten und zu frühen Industriestandorten. Da die Eisenbahningenieure ihre Geleise mit Vorliebe durch Täler legen ließen, erreichten die frühesten Impulse zur Industrialisierung das Gebiet des heutigen Landkreises Tübingen im Neckar- und Steinlachtal.

Aufgrund späterer Baudaten der Bahnstrecken folgten Unternehmensgründungen im Ammer- und Wiesaztal erst an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Landwirtschaftlich blieben hingegen viele Orte abseits der Bahnlinien auf der fruchtbaren Gäu-Hochfläche und um den Eichenberg. Die Agrarkrise des 19. Jahrhunderts hatte diese Dörfer weniger stark betroffen, weil ihre Bewohner ertragreiche Böden bewirtschafteten.

Auch einige Orte des heutigen Ammerbuch behielten ihr landwirtschaftliches Erscheinungsbild lange Zeit bei. Auf den ebenfalls fruchtbaren Härten entwickelten sich Kusterdingen und Jettenburg schon frühzeitig zu Pendler-Wohnorten, während die Dörfer Stockach (heute Gemeinde Gomaringen), Immenhausen, Wankheim und Mähringen längere Zeit ihr landwirtschaftliches Standbein behielten.

Wie sehr die Lage im Tal und an der Eisenbahnlinie das wirtschaftliche Erscheinungsbild von Siedlungen beeinflusste, zeigt sich auch deutlich an den Teilorten der heutigen Gemeinde Starzach. In den Ortsteilen Felldorf, Wachendorf sowie Bierlingen auf der Hochfläche betrieben noch bis in die 1970er Jahre hinein viele Menschen weiterhin Landwirtschaft, während sich die beiden Ortsteile Börstingen sowie Sulzau an der Eisenbahnlinie unten im Neckartal bereits zu ausgesprochenen Pendlerwohnorten entwickelt hatten.

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