Aus der Geschichte des Landkreises
Landkreis Tübingen – Orientierungsräume
Soziale und wirtschaftliche Einflüsse prägen Räume und das Leben der Menschen und können Identifikation stiften.
Wir leben in einer Zeit mit einem großen Bedürfnis nach Orientierung. Angesichts neuer Medientechnologien, deren globale Vernetzung jeden Menschen zunehmend in weltweite Zusammenhänge stellt und einer politischen Internationalisierung scheint vor allem das Bedürfnis nach einem naheliegenderen Bezugsrahmen zu wachsen. Auf unterster organisatorischer Stufe bieten diesen Rahmen in der Regel die Gemeinden in ihrer Gestalt vor der Kommunalreform der 1970er Jahre. Sie sind im Kern das Ergebnis eines Organisationsprozesses, der im 6. Jahrhundert begann.
Darüber hinaus ist aber auch der Landkreis Tübingen eine Denkkonstante, die dem Einzelnen dabei hilft, sich einen Standpunkt in der Informationsvielfalt dieser Welt zu verschaffen. Seine Tradition reicht weit ins Mittelalter zurück, die Identifikation mit ihm hat mehrere räumliche Umstrukturierungen überdauert. Er selbst trat an die Stelle älterer überkommunaler Verwaltungen, von denen einige noch immer Identifikation stiften. Je länger eine solche Tradition bestand, desto fester scheint sie sich in den Köpfen zu setzen.
Über den engeren kommunalen Strukturen entstanden im Lauf von eineinhalb Jahrtausenden verschiedene Organisations- und Verwaltungsformen, die mehr oder weniger identitätsstiftend wirkten und wirken.
So haben etwa die Grafen von Hohenberg eine viel nachhaltigere traditionsstiftende Wirkung entfaltet, als etwa die gleichzeitig herrschenden Pfalzgrafen von Tübingen. Im Fall der Hohenberger trug die Eingliederung der Herrschaft in das habsburgische Vorderösterreich und deren weitgehende Erhaltung in Gestalt des Oberamts Rottenburg seit 1806 zur Kontinuität bei.
Ähnlich stabil haben die Bewohner des einstigen württembergischen „Stäble" in Neustetten und Rottenburg-Eckenweiler ein Bewusstsein von ihrer Verwaltungstradition bewahrt, obwohl das Stäble nur bis 1806 ein Herrenberger Unteramt blieb. In diesem Fall dürfte die Abgrenzung zum vorderösterreichischen Hohenberg viel zur Identifikation beigetragen haben. Diese ursprünglich territoriale Abgrenzung setzte sich auch während der gemeinsamen Zugehörigkeit zum Oberamt Rottenburg fort, da sie während der Reformationszeit konfessionell untermauert worden war.
Neben territorialen und konfessionellen Traditionen können es auch wirtschaftliche Besonderheiten sein, die den Charakter eines Raumes und seiner Bewohner prägten und so Identifikation stifteten. Im Landkreis Tübingen spielt in dieser Beziehung das Steinlachtal eine besondere Rolle. Hier lebten wesentlich früher wesentlich mehr Menschen von der Industriearbeit als etwa auf den Gäuhochflächen, um den Eichenberg, im Starzacher Raum oder als im Ammertal. Auf der Basis der handwerklichen Tradition und der Industriearbeit beruht deshalb ein Stück weit das besondere Selbst-Bewusstsein der Steinlachtäler. Es wurde während der Zugehörigkeit zum Oberamt Rottenburg noch durch die konfessionelle Randlage verstärkt und ging mit einem besonders „linken" Wahlverhalten einher.
Hinsichtlich seiner Ausdehnung hat der Verwaltungsraum Tübingen in den letzten Jahrhunderten immer wieder Veränderungen erfahren. Während die Grenzen des Landkreises Tübingen nach Süden durch den Rand der Schwäbischen Alb und nach Norden durch das große Waldgebiet des Schönbuchs geographisch einigermaßen klar definiert sind, fehlen nach Westen und Osten natürliche Gliederungen. In diesen Richtungen erstreckt sich das Kreisgebiet den Flusssystemen von Neckar, Steinlach und Ammer entlang.
Historische Grenzsteine, insbesondere jene zwischen dem Herzogtum Württemberg und der vorderösterreichischen Herrschaft Hohenberg, beeinflussten hier traditionell die Verwaltungsgliederung. Später, nachdem der französische Kaiser Napoleon Bonaparte das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und mit ihm dessen territoriale Zersplitterung aufgehoben hatte, änderten die württembergischen Könige und nach ihnen verschiedene Landesregierungen die Grenzen der Verwaltungsräume.
Kennzeichnend für die Entwicklung des Oberamtes und Landkreises Tübingen war dabei eine zweimalige Verlagerung seines Schwergewichtes Richtung Westen. Schon bei der Kreisreform vom 1. Oktober 1938 verlor das Verwaltungszentrum Tübingen Orte vor allem im östlichen Teil seines traditionellen Amtsbereiches an die Landkreise Reutlingen und Nürtingen, wohingegen es im Westen die meisten Gemeinden des Ammertals und das aufgelöste Oberamt Rottenburg hinzugewann.
Durch die letzte Kreisreform verschob sich am 1. Januar 1973 das Kreisgebiet noch einmal von Ost nach West, als Zugewinnen vom früheren Landkreis Horb der Verlust des Unteramtes um Walddorf-Häslach an Reutlingen gegenüberstand.
Im Zuge dieser Verlagerung des Verwaltungsraumes haben sich die Grenzen nachhaltig verschoben. Lag die Amts-, Oberamts- und Kreisstadt Tübingen ursprünglich an dessen südwestlichem Rand, dann seit 1938 im Zentrum, so ist ihr heute die östliche Grenze am nächsten.
Weitere Informationen
- 50 Jahre Landkreis Tübingen (2023)
Landkreisreform in Baden-Württemberg 1973